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Mittwoch, 11. Januar 2023

Grüner Kapitalismus: Hatte Marx doch recht?

In der tollen Titelgeschichte im SPIEGEL geht es um „grünen Kapitalismus“. Die Autoren fragen, ob Marx doch recht hatte.

Kritik am Kapitalismus von ungewohnter Seite

Dem Satz „Der Kapitalismus funktioniert nicht mehr für die meisten Menschen“ würden viele Menschen zustimmen. Diese Analyse von Ray Dalio, dem Gründer des größten Hedgefonds, ist dennoch überrascht. Er kritisiert die einseitige Verteilung von Wohlstand und fordert grundlegende Reformen. Die Rufe nach einer neuen Wirtschaftsordnung werden aus allen Seiten lauter: Können wir mit dieser Wirtschaftsordnung so weitermachen? Mit einem Klimakiller-Kapitalismus, der auf immer mehr getrimmt ist: immer mehr Konsum, Profit, Wachstum? Und dabei stets mehr Ungerechtigkeit hervorbringt?

Globalisierung ist aus dem Ruder gelaufen

Der industrielle Kapitalismus sorgte in der Vergangenheit konstant für Wohlstand und Wachstum, Inzwischen aber liegen die Schwächen so offen zutage. Die Globalisierung ist aus dem Ruder gelaufen, fast alle Wohlstandsgewinne landen bei den obersten zehn Prozent der Bevölkerungen. Der wahnwitzige Ressourcenverbrauch ruiniert den Planeten. Die Finanzindustrie schwelgt in immer neuen Exzessen. Viele machen sich Gedanken um eine gerechtere und grünere Ordnung.

Die Suche nach einem klima-freundlichen, stressfreieren Leben

Trotz der unbestreitbaren Erfolge sind viele Millennials unzufrieden. In den USA fordert die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez deutlich höhere Steuern, die Mehrheit der Deutschen macht den Kapitalismus für die Klimakrise verantwortlich.
Auch Aktivist*innen von Friday for Future fordern ein Systemwandel, da es nirgends gelungen ist das wachsende Bruttoinlandsprodukt vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Dieser Analyse stimmen inzwischen vielen zu, so fordert auch der Milliardär Dalio Umverteilung. Der japanische Professor für Philosophie Kohei Saito sieht die Lösung in einem „postkapitalistisches System, in dem es kein Wachstum mehr gebe, die gesellschaftliche Produktion verlangsamt und der Wohlstand gezielt umverteilt werde.“

Alle Macht dem Staat

Ein weiterer Trend ist die Hinwendung zum Staat, er musste während der Corona-Krise viele Unternehmen stützen und soll nun eine grüne Wirtschaft bauen.
So fordert es zumindest Mariana Mazzucato, auf die auch Joe Biden und Olaf Scholz folgen. Sie lieferte Skripte für den »Green New Deals«, also den klimafreundlichen Umbau von Wirtschaft und Industrie. Sie fordert, dass der Staat die Richtung vorgeben und ambitionierte Ziele setzen muss.
Sie fordert keinen Sozialismus, sondern große Ziele, so wie die US-Regierung einst vorgab, innerhalb einer Dekade zum Mond zu fliegen. Sie möchte Unternehmen in eine Richtung zwingen, z.B. nur noch »grünen« Zement zu verwenden und der Staat finanziell hilft. Die Regierung kann Zuschüsse an Bedingungen knüpfen wie Frankreich beim Darlehen für Air France oder Renault gemacht hat. Ihr schwebt ein Unternehmerstaat vor, der Firmen Anreize setzt, ihr Geld in übergeordnete Ziele zu stecken.
Die Bundesregierung möchte diese Idee durch Klimaschutzverträge umsetzen: Wer klimafreundlich produziert, obwohl das teurer ist, bekommt vom Staat bis zu 15 Jahre lang die Mehrkosten erstattet. Dem stimmen die Unternehmen auch zu, sie halten staatliche Förderinstrumente für unverzichtbar.

Die Epoche des Neoliberalismus ist vorbei
Auch wenn viele die Ideen von Mazzucato ablehnen – die jahrzehntelange Epoche des Neoliberalismus dürfte damit endgültig vorbei sein. Angefangen von Ronald Reagan wurden Deregulierung und Globalisierung vorangetrieben, in Deutschland vom sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder. Dieser Weg führte direkt zur Finanzkrise. Damals musste der Staat massiv eingreifen, um den Kollaps zu verhindern.
Ein ausgeglichener Haushalt wurde Selbstzweck, während der Pandemie waren dann auf einmal riesige Summe da. Mazzucato fragt zurecht: »Warum wird das Geld immer nur über Nacht in Notsituationen herausgeholt? Wenn es um große gesellschaftliche Aufgaben von Gesundheit bis Umwelt geht, heißt es: Geht nicht, wir müssen auf die Staatsschulden achten.«

Das Ende von Wachstum und Shareholder Value

Tim Jackson hat mit „Wohlstand ohne Wachstum“ ein wichtiges Werk vorgelegt. Der Mensch will nicht immer nur mehr Geld und Gesetz. Er hält unser Wirtschaftsmodell von Grund auf fehlerhaft.
Viele argumentieren, dass ohne Wachstum alles zusammenbricht: vehement bejaht. Die kurze Version geht so: Ohne Wachstum sparen Unternehmen und kürzen Stellen. Erst bricht der Arbeitsmarkt ein, dann der Konsum. Bestenfalls führt das zu Stagnation. Der Lebensstandard schwächelt, die Wohlstandsgewinne bleiben aus.
Angesichts der Klimakrise hat sich die Debatte verändert. Ganz ohne Wachstum wollen die wenigsten Wirtschaftsexperten auskommen. Stattdessen wird über sanftere Wege des Entzugs nachgedacht, was vor allem bedeutet: richtiges von falschem Wachstum zu trennen. Beispielsweise bei erneuerbaren Energien massiv wachsen, dafür aber die Ölindustrie einstampfen. Oder Stahlfabriken durch digitale Start-ups ersetzen.

Erste Erfolge und Zweifel

Viele zweifeln, ob es zum Verzicht kommen wird. Europäer und Amerikaner werden nicht zusehen, wie China und andere Autokratien wirtschaftlich mit Vollgas expandieren. Dennoch haben einige Staaten ein Wirtschaftswachstum geschafft, während die CO2-Emissionen sinken. Auch immer mehr Unternehmen versuchen ihren Weg in Richtung Post-Wachstum zu gehen. In den USA haben die 200 größten Unternehmen versprochen, nicht nur ihren Aktionären, sondern „allen Stakeholdern“ verpflichtet zu sein. Der Schweizer Mittelständler Freitag, der Tragetaschen verkauft, hat sich eine Grenze gesetzt, weil man mit dem bisherigen Verkauf einfach zufrieden ist. Die Gründer möchten zeigen, wie langsamer, ausgeglichener »für alle gesünder« funktionieren kann.

Vorschläge für eine gerechtere Gemeinschaft

Die feministische Philosophin Eva von Redecker und die Ökonomin Minouche Shafik stimmen trotz ideologischer Unterschiede in vielem überein: Gutes Zusammenleben braucht neue Regeln.

Gemeinschaft der Teilenden

Redecker zweifelt dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form noch zukunftsfähig ist. Der Feudalismus sei überwunden werden, die neuen Besitzverhältnisse haben aber zu einer Erschöpfung der Natur geführt. Sie strebt eine „Gemeinschaft der Teilenden an“ – anstatt Güter zu verwerten, könnten wir sie teilen: Wir könnten pflegen, was uns anvertraut ist, anstatt es zu unterwerfen. Frauen haben in diesem Wandel eine besondere Rolle.  Ob Fridays for Future, Belarus oder Iran – Sie treiben den Wandel voran. Arbeit von Frauen sei an den Bedürfnissen des Menschen orientiert gewesen, nicht an Bedürfnissen des Marktes. Und deswegen sähen Frauen heute möglicherweise deut­licher als Männer, dass es um nichts weniger gehe als ums Überleben – der Menschheit.

Massiv in Bildung, Infrastruktur und Chancengleichheit investieren

Minouche Shafik, die Direktorin der London School of Economics, fordert eine „Vorverteilung“. Der Staat müsse »vorverteilen«: viel massiver in Bildung investieren, in Infrastruktur, in alle möglichen Formen von Chancengleichheit. »Es muss so früh wie möglich in alle investiert werden, besonders aber in die Benachteiligten, und aus diesem Einsatz kann eine produktivere Wirtschaft entstehen.«
Eine Möglichkeit wäre ein Ausbildungsgeld von 50.000 Euro, das Menschen für das ganze Leben für Bildung nutzen können.

Der Kapitalismus muss sich radikal verändern, aber „es klingt inzwischen mehr nach Verheißung als nach einer Drohung.“